Kafka 100/ Das Schweigen der Sirenen
ERZÄHLERSTIMME:
Die Entwicklung eines Burnout-Präventionsprogrammes bedeutete freilich eine fast endlose Arbeit. Man konnte leicht zu dem Glauben kommen, dass es UNMÖGLICH war, ein Burnout-Präventionsprogramm jemals fertigzustellen, nicht nur weil die eigene Belastbarkeit stets entwicklungsbedürftig blieb und gesondert bearbeitet werden musste, sondern weil zunächst das gesamte Leben jeder einzelnen Burnout gefährdeten Berufsgruppe in seiner steten Flexibilisierung von allen Seiten überprüft und ausgewertet werden musste, ehe an das geforderte Update auch nur gedacht werden, geschweige denn die erforderlichen interaktiven und multimedialen Features eingebaut werden konnten und selbst wenn K. sich dies alles durchzuführen getraute - was nicht der Fall war - die Gefahr einer Überstrapazierung der eigenen Strapazierungskompetenz war überwältigend. K., ohnehin mit Arbeit überhäuft, würde, wenn er im Bureau nicht fertig damit würde - was sehr wahrscheinlich war - es zu Hause in den Nächten erledigen müssen, neben seinen sonstigen Schreibversuchen. Würden auch die Nächte nicht genügen, dann müsste er einen Aufenthalt in einer Burnoutklinik in Erwähnung ziehen, um das Präventionsprogramm im Rahmen einer Vorsorgekur zu erledigen. Ganz erledigt legte K. seinen Kopf auf den Tisch und ließ den ganzen Arm ausgestreckt auf der Tischplatte liegen. So verharrte er etwa 1 Minute --- und schlief schließlich ein, vor vollständiger Erschöpfung
K. (leichtes Schnarchgeräusch) > Musiker: Sirene Fitness-Einheit
K (aufschreckend): „Eine FRATZE ist oben in der Ventilatoröffnung!!! äh ich meine ich ich ich habe nur ganz kurz ge- gepowernapt, um das Präventionsprogramm---“
ERZÄHLERSTIMME:
Es war keine Fratze, sondern K.s clevere Fitnessuhr. Sie hatte gerade seine Schlafqualität gemessen und signalisierte nun sanft, dass es Zeit für eine weitere Trainingseinheit war, zum Zwecke der Burnout-Prävention.
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K. absolviert ein Laufbandtraining mit steigender Geschwindigkeit
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ERZÄHLERSTIMME:
Der verkrümmte Bureaumensch muss dem Haltungsschaden entgegenarbeiten, daran ist kein Zweifel, er muss auf der Stelle laufen, anlaufen gegen eine unerreichbare wie unüberschreitbare Grenze... aber selbst wenn er sich viel Mühe gibt, kann er doch nicht hinauslaufen aus dem jagenden Unbehagen seines Körpers, der bis auf die Touchpadfinger immer weniger gebraucht und daher immer taumeliger und unsicherer wird und im Grunde nur noch ein einziger fortdauernder ARBEITSPROZESS ist... So ein ArbeitsPROZESS hörte nie auf, das wusste K., er kann nicht stillstehen, wenigstens scheinbar muss er weiterLAUFEN, hinausLAUFEN auf eine Verlaufsanalyse, es ist ja alles nur Performanz, wobei man die Dinge nicht einfach LAUFEN lassen kann, sondern fortLAUFEND muss man etwas für den ArbeitsPROZESS tun, und zusehen, dass einem die Zeit nicht davon LÄUFT, so wie man selber ihm nicht DAVONLAUFEN kann, diesem ArbeitsPROZESS, denn die Logik geLÄUFiger ArbeitsABLÄUFE unterLÄUFT ja alles, was ihnen zuwiderLAUFEN könnte.
K. (zunehmend außer Atem): „Und doch läuft der ZWEIFEL mit, bei aller Körperfabrikation, man kann sich gar nicht wehren, MIT EINEM SOLCHEN KÖRPER LÄSST SICH EINFACH NICHTS ERREICHEN, außer Vitaldaten zu erzeugen und Serien aufpolierter Körperbilder, die in Sprints abgearbeitet und online gestellt werden, während die Vermessungen immer vermessener werden, und die Subjekte immer suspekter... Au aua verdammt, was... aaah ist das eine ZERRRUNG oder...meine ver-zerr-tifizierte Smartwatch rät dazu aufzuhören, ah ja, Gott sei Dank, auf diesen Gedanken wäre ich selber ja überhaupt nicht gekommen, puh.“
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(Auszug)